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Drin oder Linie ? - Wo und wie haben Sie das dritte Tor von Wembley gesehen? Antwort auf eine Umfrage

Das Finale von Wembley sah ich, siebenjährig, im Wohn-zimmer der Nachbarfamilie Kasper, wo, im Gegensatz zum elterlichen Heim, ein Fernseher und, ebenfalls ganz anders als bei uns, sämtliche Karl-May-Bände in der Schrankwand standen. Ich saß während der gesamten Übertragung auf dem Schoß meiner Mutter, weil sich neben der eigenen und immerhin siebenöpfigen noch zwei weitere kinderreiche Nachbarfamilien vollzählig vor dem Kasperschen Bildschirm versammelt hatten und also wegen des großen Andrangs kein anderer Platz mehr frei war. Ja, damals rückten die Menschen noch zusammen. Den besten Platz von allen hatte ohne Zweifel Herr Kasper in einem Ohrensessel mit ausklappbarer Beinstütze, den schlechtesten Frau Kasper. Sie stand bzw. rochierte während der gesamten Spielzeit zwischen Küche und Wohnzimmer, um Schnittchen herzurichten und Bier, Schnaps und Limo zu reichen. Jahre später wurde sie übrigens in eine Trinkerheilanstalt eingeliefert. Herr Kasper war da schon lange tot.

Das Endspiel war nach der Live-Übertragung von Adenauers Begräbnis (gesehen bei Koslowskis) die zweite Fernsehsendung meines Lebens; eine Reihenfolge, die angesichts der Tatsache, daß Konrad Adenauer erst 1967 starb, etwas verwundern mag. Aber meine Erinnerung will es so. Die dritte Sendung war dann die Mondlandung (wieder bei Koslowskis). Wenig später kriegten wir selbst einen Fernseher: An einem Heiligabend Anfang der Siebziger stand er zu meiner völligen Überraschung unterm Tannenbaum. Ich war vor Freude wie von Sinnen.
Umso größer das Unglück, als das Gerät bereits am nächsten Vormittag seinen Geist aufgab. Statt eines Bildes erschien auf dem Bildschirm nur noch ein schmaler Streifen. Wegen der Feiertage konnte der Schaden kurzfristig nicht behoben und natürlich auch kein Ersatz besorgt werden, worüber ich derart verzweifelte, daß ich meiner Mutter halb wahnsinnig vor Enttäuschung die Sinnfrage stellte: Wie denn Weihnachten ein Fest der Freude sein könne, wenn der neue Fernseher nicht funktioniert. Da hat sie mir eine gescheuert.

Doch zurück zum Spiel. Meine Brüder und ich trugen unsere Borussia-Dortmund-Trikots: von meiner Mutter gelb eingefärbte Unterhemden, schwarze Turnhosen und schwarz-gelb-geringelte Stricksocken. Schuhe und erst recht unsere Treter mit den Gummistollen drunter waren im Kasperschen Wohnzimmer nicht gestattet. An den eigentlichen Spielverlauf erinnere ich mich bloß schemenhaft, weiß nur noch, daß immer, wenn die Engländer vor unserem Tor auftauchten, die Väter, quasi mitgrätschend und -schwitzend, ihre Jacken auszogen. War die Gefahr bereinigt, zogen sie sie wieder an und tranken einen Schnaps. Half aber alles nichts, wie man weiß.

Ansonsten erinnere ich kaum Einzelheiten - außer der einen, mit der es sich aber, zumindest im nachhinein, etwas mysteriös verhält: Kurz vor Schluß der regulären Spielzeit - es stand noch 2:1 für England - meine ich den Kommentator Rudi Michel im Fernseher stöhnen gehört zu haben, daß nur noch 120 Sekunden zu spielen seien. Eine Zeitangabe, die um herum allgemeines Entsetzen auslöste, was mich Kindskopf zunächst irritierte, schien mir doch 120 eine recht hohe Zahl zu sein und wir demnach noch alle Zeit der Welt zu haben. Erst als mir meine Mutter mit Hilfe des Sekundeszeigers ihrer Armbanduhr demonstrierte, wie verdammt schnell 120 Sekunden herum sind, wurde auch mir schlagartig klar, daß wohl bald alles aus und vorbei sein werde und wir kaum mehr Weltmeister werden konnten. Da aber schoß Wolfgang Weber den Ausgleich, und das war ebenso knapp wie kaum auszuhalten. Eben noch die sichere Niederlage vor Augen, keimte nun wieder Hoffnung. Mein kleiner Bruder machte sich vor Aufregung in die Hose. Seltsam nur: Jener Seufzer Rudi Michels mit den 120 Sekunden ist in der Aufzeichnung des Endspiels, die mir vor einigen Monaten bei einer Recherche im NDR-Archiv zufällig in die Hände fiel, nicht mehr vorhanden. Mehrmals habe ich den Film gegen Ende der zweiten Halbzeit hin- und hergespult, um immer wieder zu lauschen. Doch nichts da, die betreffende Zeitangabe fehlt. Was hat das zu bedeuten?

Auf jeden Fall hat sich Webers Treffer zum 2:2 viel tiefer in mein Gedächtnis gewühlt als das eigentliche Tor von Wembley, das für mich, damals jedenfalls, natürlich keins war. Zu Überzeugend schien zunächst die Argmentation der Erwachsenen (meistenteils ehemalige Rußlandkämpfer), wonach der kalte Krieger an der Seitenlinie, der Sowjetrusse Tofik Bachramow, das Tor einzig aus revanchistischen Gründen hinter der Torlinie gesehen hatte, als späte Rache für den Überfall von 1941. Eine böse, niederträchtige Theorie, die aber selbst heute noch in den Köpfen herumzuspuken scheint, wie sich nicht zuletzt zeigte, als Bachramow im Alter von 66 (!) Jahren verstarb und dies manch einem deutschen "Fußballfreund" Anlaß zu unverhohlener und gleichsam schäbiger Freude gab. Andere sprachen gar von einem "Fluch des dritten Tores", dem Bachramow endlich und verdientermaßen erlegen sei.

Nein, nein, ich sehe das heute, selbst nach dem ausgiebigen Studium von Sven Simons Beweisfotoband, alles ganz anders. England hat den Weltmeistertitel von 1966 verdient gewonnen, denn die Pille war drin, weil Schieds- und Linienrichter so entschieden; womit ich übrigens, auch in aufrichtiger Sorge um die Zukunft unseres schönen Sports, eines einmal klipp und klar gesagt haben will: Es lebe die Tatsachenentscheidung! Keinen Fußbreit dem Foto- und Fernsehbeweis.

Fritz Tietz

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